Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Allgemeine Fragen und Themen über europäische Ameisenarten (hier keine Berichte)
Gast
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#1 Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von Gast » 23. Mai 2013, 18:13

Alle Jahre wieder kommt im Frühjahr die Frage auf, ob man junge Königinnen der gesetzlich geschützten und bedrohten Waldameisen (Gattung Formica s.str.) einsammeln darf um damit die Koloniegründung zu versuchen. Als Ziel wird in der Regel angegeben, dass man die Völkchen dann auswildern und den Waldameisen damit helfen möchte.
Kurz gesagt: Man darf nicht, und es hilft den Waldameisen nicht!

Anlässlich einer entsprechenden PN schreibe ich hier eine umfassende Begründung.

Für Waldameisen ist die eigentliche Frage: Bringt es irgendeinen Vorteil für die bedrohten bzw. geschützten Arten? Die Antwort ist ganz klar „nein“.

„Bedroht“ heißt ja noch lange nicht, dass die Art(-en) wirklich selten wären. Man muss sich nur ein paar Zahlen ansehen, z. B. hier
http://www.waldwissen.net/wald/tiere/insekten_wirbellose/sbs_waldameisenkartierung/index_DE
Die Kartierungen in Sachsen – nur in einem kleinen Teil des Bundeslandes! – erfassten bis zum Zeitpunkt des Berichts fast 4.000 Nester.

Oder wenn man sich die Umsiedlungs-Statistik ansieht, Waldameisen-Umsiedlungen durch die Dt. Ameisenschutzwarte 1985 - 2012
http://ameise-fleischmann.homepage.t-online.de/AkAuswertung.htm
Über 5.000 umgesiedelte Völker.

Jedes dieser Völker umfasst bei F. polyctena und bei der polygynen F. rufa Dutzende bis mehrere Hundert Königinnen sowie bis gegen Hunderttausend Arbeiterinnen.

Geschützt werden diese Arten nicht wegen der Gefahr des baldigen Aussterbens, sondern weil sie besonders wichtige Glieder der Lebensgemeinschaft Wald sind, sowie um ihren weiteren Rückgang zu bremsen.

„Bedroht“ heißt bei den Waldameisen, dass über viele Jahrzehnte die Bestände stark zurückgegangen sind, dass es an manchen Orten (von wo Berichte vorliegen) vor 50 oder 100 Jahren noch ein Vielfaches mehr waren. (Gründe für Rettungsumsiedlungen siehehttp://ameise-fleischmann.homepage.t-online.de/AkAuswertung.htm ). Ursachen für den Rückgang war bis in die 1950er – 1960er Jahre auch noch die massenhafte Gewinnung von Puppen als Heimtierfutter („Ameiseneier“, s. http://www.ameisenwiki.de/index.php/Ameiseneier_(Futtermittel) ). Hinzu kam großflächige Waldvernichtung für Siedlungsbau, Straßenbau, Flughäfen, Industrieanlagen usw. .
Gegenüber den Zigtausenden von vernichteten Nestern können ein paar einzeln zur künstlichen Koloniegründung gebrachte Gynen (die selbst bei „gemeinen“ Arten wie Lasius niger doch sehr oft auch noch sterben) weit weniger ausrichten als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.

Gewiss, die Entnahme von ein paar Königinnen für den Versuch, damit Kolonien zu gründen, wäre kein nennenswerter Verlust für die Populationen, aber die Produktion von ein paar Dutzend mini-Völkchen zum Freisetzen wäre eben auch kein Gewinn: Die allermeisten der großen (polygynen) Völker werden als Ableger mit bereits Hunderten von Königinnen und mehreren Tausend Arbeiterinnen gegründet: Nur so können sie sich durchsetzen gegen die Konkurrenz und den Feinddruck v. a. durch andere Ameisenvölker und –Arten.

Vielfach haben in den Ameisenforen bereits User die Frage gestellt, ob sie mit Gründungen im Formikar den Waldameisen helfen könnten. Leider schimmerte dabei in aller Regel nur der Wunsch durch, Waldameisen zu halten, wobei die „Hilfe“ für diese Arten oft deutlich nur vorgeschützt erschien.
Siehe auch hier, als Beispiel für erschreckende Unkenntnis: http://www.antstore.net/viewtopic.php?f=167&t=14721&p=155366#p155366

Es galt und gilt also den Anfängen zu wehren und Haltungsversuche generell zu verbieten. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie eine allgemeine Freigabe von Ameisenhändlern umgehend genutzt würde: Angebot wäre etwa ein Waldameisen-Koloniegründungs-Set, bestehend aus einem „Myrmshop“-Formikar mit Zubehör, Futter, Nadelstreu usw., einem Völkchen Formica fusca ohne Königin, und im Frühjahr eine oder mehrere der zuhauf umherlaufenden Waldameisen-Königinnen! Letztere könnten die User auch selber fangen (tun ja auch einige; nicht alle melden sich in den Foren!). Und wieder würden die Shops viel Umsatz machen, viel verdienen, mit sinnlosem Zubehör und für eine Haltung, die den Waldameisen jedenfalls keinerlei Nutzen bringen würde. Dann doch besser gar nicht!

Zu User-Versuchen, in denen es zu einer Produktion erster Arbeiterinnen kam und tatsächlich ein Auswildern beabsichtigt ist:
Das Problem wird sein, eine geeignete Stelle zum Aussetzen zu finden, wo einerseits die Bedingungen überhaupt passen und wo andererseits keine großen Völker als Konkurrenz sind (die sind nämlich immer gerade da, wo die Lebensbedingungen für die Art gut sind!).

Mit der Suche nach geeigneten Ansiedlungsplätzen haben – bei Umsiedlungen – selbst die geschulten Ameisenheger oft große Schwierigkeiten. Ein wesentliches Problem ist, dass die Bedingungen für so ein Ameisenvolk über viele Jahre alljährlich ausreichend bis gut sein müssen: Nach, sagen wir, 6-8 Jahren mit bestem Wachstum der Kolonien kommt evtl. ein zu trockenes Jahr, und schon ist ein ganzer Kolonieverband „verschwunden“, verdurstet, oder verhungert, weil die Zahl der Honigtau liefernden Lachniden zufällig mal zu gering war.

Solche „Ergebnisse“ kamen bei Auswertungen der künstlichen Ansiedlungsversuche durch Prof. Gößwald / Würzburg und seine Mitarbeiter zum Vorschein. Ich kenne ein Beispiel persönlich: Im Nürnberger Reichswald wurden um 1955-1960 gegen 400 große Völker von Formica polyctena und der polygynen Formica rufa in einem trockenen Kiefernwald angesiedelt. Ich war 1965 dort. Trotz bester Pflege (Nestschutz, in den ersten Jahren auch Zufütterung) und mehrfacher Zugabe begatteter Jungköniginnen (zu schwächeren Völkchen jeweils 200 Stück pro Nest!) waren ca. 15 Jahre später die Ameisen praktisch restlos verschwunden.

Zum Thema „geeignete Neststandorte“ ist hier im 4. Post ein lehrreiches Beispiel dafür, was z. B. die Ameisen selbst für geeignet halten:
http://www.ameisenschutzwarte.de/forum/viewtopic.php?f=23&t=1798

Das Fazit kann nur sein, was im Titel steht: Haltung von Waldameisen ist für diese keine Hilfe. Sie ist mit Recht verboten!

Merkur



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#2 AW: Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von NnUuMmBbEeRr » 23. Mai 2013, 19:14

Hallo!

Vielen Dank für den Beitrag. Vieles davon wusste ich noch nicht. Du öffnest bestimmt einigen Usern die Augen.

Ich denke das mit dem aussetzen gilt nicht nur für Formica s. str., sondern generell für Ameisen. Die besten Nistplätze sind eh schon längst abgegriffen, deshalb hätten die meisten Kolonien nach dem aussetzen wohl keine Überlebenschance.


LG NnUuMmBbEeRr!



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Streaker87
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#3 AW: Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von Streaker87 » 5. Juni 2013, 15:07

Habe das Thema mal als "Wichtig" oben angepinnt, damit es nicht so schnell in den Tiefen des Forums verschwindet.
Zumindest solange die Waldameisen schwärmen.

Danke Merkur!




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#4 AW: Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von NuEM » 5. Juni 2013, 18:43

Ein guter Beitrag, vielen Dank Merkur. Denjenigen, denen es trotzdem in den Fingern juckt, Waldameisen halten zu wollen, möchte ich Arten wie Formica sanguinea oder Formica rufibarbis ans Herz legen. Diese nicht besonders geschützten Arten sind zwar keine "echten" hügelbauenden Waldameisen, sehen aber zumindest für den unbedarften Betrachter genau so aus, und sind auch im Verhalten ähnlich. Sicher, den typischen Hügel errichten sie nicht, aber gerade dieses interessante Alleinstellungsmerkmal der hügelbauenden Waldameisen lässt sich in der Haltung in der Wohnung doch gar nicht richtig nachstellen. Schon allein klimatechnisch nicht. So ein Ding braucht frische Luft und Sonnenschein, nicht den ewigen Halbschatten und die konstante Temperatur und Luftfeuchtigkeit der Wohnung.
Folgende Benutzer bedankten sich beim Autor NuEM für den Beitrag:
Fabey93



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#5 AW: Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von druidefuzi » 16. Juni 2013, 02:16

Hoi,
Ist es nicht sowieso schwachsinnig wenn man ein kleines Waldameisen-Völkchen einfach in den Wald entlässt, wo sie dann unzähligen , warscheinlich größeren , (feindlichen) Kolonien gegenüberstehen? Da kann man auch gleich Honig und nen Berg toter Insekten im Wald abstellen, in beiden Fällen würde man nur die Ameisen die bereits da sind füttern.Die Begründung an sich ist für mich nur Heuchelei.

MfG


Lasius niger seit :11.09.2012
Lasius flavus seit:27.06.2013 († 08.07.2013)
Lasius cf. niger seit: 12.07.2013

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#6 AW: Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von Gast » 16. Juni 2013, 07:31

Hallo druidefuzi,

Du hast weitgehend Recht, und nichts anderes habe ich versucht deutlich zu machen.
Nur bei dem Punkt "Heuchelei" möchte ich widersprechen: Die gibt es zweifellos auch, aber da ich den einen oder anderen User über längere Zeit "kenne" (von ihren Einträgen), bin ich auch überzeugt, dass manchmal tatsächlich nur gute Absicht hinter dem Wunsch steht. Das allerdings auf der Basis nicht ausreichender Kenntnis dieser Ameisen, ihrer Bedürfnisse und der Probleme, die sich aus dem ganzen Unterfangen ergeben.

Schönen Sonntag wünscht
Merkur



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#7 AW: Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von Javis » 16. Juni 2013, 09:26

Hallo Merkur

Bei mir in der Nähe gibt es leider nur ein kleineres Nest einer Waldameisenart.
Vor einigen Jahren Landete ein Großer Baum bei Waldarbeiten mitten auf dem Nest.
Ich war Natürlich stocksauer über solche Unachtsamkeit.
Als der Baum einige Monate später weggeräumt wurde, war von dem Nest leider nicht mehr viel übrig auch Ameisen sah man nicht mehr.

Es vergingen fast 2 Jahre als ich plötzlich merkte dass der Ameisenhügel wieder wuchs, und wieder Waldameisen zu sehen waren.
Da ich mich sehr gefreut habe dass sie die Katastrophe überlebt hatten bot ich ihnen 2x größere Mengen Mehlwürmer, und auch Honig auf Blättern verteilt an.
Der auch gut angenommen wurde.

Meine Frage ist jetzt Hilft so was denn wenigstens Waldameisen, das man ihnen zusätzliche Nahrung anbietet.
Damit das Volk schneller wachsen kann und somit wieder größere Überlebenschancen hat?
Oder bringt das nicht viel?

Über eine Antwort würde ich mich freuen.

LG Javis


Das größte Vorbild in der Ameisenhaltung sollte die Natur sein, dann kann man nicht viel falsch machen.

Camponotus Haltungsbericht, Diskussionsthread-camponotus-ligniperdus Baubericht: Naturformikarium

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#8 AW: Waldameisen: Koloniegründung im Formicarium ist keine Hilfe!

Beitrag von Streaker87 » 16. Juni 2013, 11:20

@Javis:

Ich kann mir auch nur meine eigenen Gedanken zu dem Thema machen.

Ich würde es mit der "Räuber-Beute" Beziehung erklären. Wenn die Anzahl der Beute (Honig/Proteine) anwächst, dann steigt auch die Anzahl der Räuber (Ameisen). Aber solltest Du für eine längere Zeit nicht mehr füttern (die Beute nicht ab), dann fällt auch die Anzahl der Ameisen (Räuber) wieder, da nicht ausreichend Nahrung vorhanden ist. Es bringt also nur vorübergehend etwas, oder man übertreibt und sagt, Du schadest der Kolonie, weil Du ihnen einen Überfluss an Nahrung in der Umgebung vorgaukelst. Jetzt wächst die Kolonie stärker und kann sich dann nicht mehr ernähren. Die paar mehr Arbeiterinnern, die dann vmtl. mehr Futter finden können, machen dann wohl auch nichts aus.

Als Unterstützung in der Gründungsphase, bis die Kolonie eine bestimmte Größe erreicht hat, fände ich es aber noch in Ordnung, da das Nahrungsangebot, welches die nähere Umgebung bietet, sicher nicht überschritten wird. So hast Du es vmtl. auch gemeint?




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