Ganz zu Anfang merke ich an, dass wir beide die endlosen Belege oder Beleglosigkeit zu unseren Behauptungen nicht aufführen und sicher auch nicht nachrecherchiert haben: Ich möchte nachdrücklich darauf hinweisen, dass ich einen Eindruck widerspiegele, den ich in meiner Beschäftigung mit Ameisen gewonnen habe. Eine Belegesammlung würde auch meinen zeitlichen Rahmen sprengen. Und sicherlich den ein oder anderen Erinnerungs- und Denkfehler meinerseits zutage fördern - wenn Sahal es nicht sowieso tut.
P.S.: Ich habe jetzt gerade zuende geschrieben und habe gesehen, es ist ein Buch geworden Wer es also alles liest ist selber Schuld, und ich würde mir nicht die Mühe machen, wenn ich es nicht wirklich spannend fände:
Mein lieber Sahal,
mit Dir zu schreiben ist eine Party ganz nach meinem Geschmack!
Und "Straucheln" ist die von mir bevorzugte Fortbewegungsart. Nun ja, vielleicht kenne ich auch keine andere?
Folgendes Gesetz, als grundlegendes Programm von Ameisen, vorweg:
Achte auf Deine Nächste!
Es gibt meiner Meinung nach keine andere Erklärung für die elaborierten Kommunikationsmechanismen der Ameisen, als v.a. Zustände der Nächsten definieren zu können.
Darin sind wir uns vielleicht einigermaßen einig!
Die Verfolgung dieses einen Befehls ist aber Schwankungen im Ausdruck unterworfen.
Man untersucht Ameisen gleichen Alters und stellt fest, dass sie fast alle zunächst den Innendienst versehen, die Königinen-/Brutpflege z.B., und sich im Laufe ihres Lebens immer weiter nach außen arbeiten. Bis sie dann als erfahrene Ameise, und tendenziell dem Lebensende sich nähernde, der Fourage widmen und der Verteidigung des Nests.
Aber es gibt auch Unterschiede in der Reizbeantwortung/Neigung. Es gibt Ameisen, die fast ihr ganzes Leben bei der Brutpflege bleiben, und Ameisen die die meiste Zeit ihres Lebens völlig fexibel wechselnden Aufgaben sich widmen können, sowie Ameisen, die eher furagieren als der Durchschnitt.
Ameisen sind innerhalb einer Kolonie eben nicht vollkommen gleich - auch wenn es eine sehr große Anzahl übereinstimmende Reaktionen auf starke Reize gibt, so heißt das nichts für kleinere Reize.
Und dieses Reizschwellenprofil ist bei Ameisen individuell verschieden, in minimalen Nuancen, manchmal mit deutlichen Wirkungen.
Beobachtet man sie nur ein paar Stunden, könnte man eine Kolonie sozialer Insekten als aus Automaten bestehend begreifen wollen, mit dem gleichen einförmigen Set von Entscheidungsregeln. Aber dies ist nicht der Fall. Jedes Mitglied einer Kolonie ist verschieden in der einen oder anderen Weise, die das Verhalten beeinflußt. Jeder hat seinen eigenen Geist ("mind"). Mit Geist ("mind") meinen wir nicht ein reflektierendes, seiner selbst bewußtes, weitschweifendes Bewußtsein der menschlichen Art, aber eher ein kognitives Bewußtsein, gebildet von einem relativ komplexen Gehirn, welches sowohl Informationen aller sensorischen Modalitäten (Riechen, Schmecken, Fühlen/Tasten, Sehen und Hören) speichern kann, wie auch einiges von den wichtigen Erfahrungen, die es während seiner kurzen Lebensspanne gemacht hat. Tatsächlich wissen wir heutzutage, dass vererbbare Variationen in der Lernfähigkeit/gezeigten Lernleistung die Präferenzen der ArbeiterInnen beeinflußt. In vielen Fällen, zudem, ist das Leben nicht kurz: Während Honigbienen Arbeiterinnen innerhalb weniger Wochen an Alter sterben, können Arbeiterinnen mancher Ameisenarten etliche Jahre leben.
Arbeit wird durch die Prioritäten, die zumindest zum Teil durch vorherige Wahrnehmung beeinflußt sind, getrieben: Die Suche nach dieser Tätigkeit, oder diese laufende Arbeit vollenden, oder die Umgebung nach irgendeiner nötigen Arbeit absuchen, oder Pausieren um Wache zu stehen, oder einfach nur Ausruhen.
(Hölldobler/Wilson, "The Superorganism", p.117p, 2009, eigene Übersetzung)
Insofern "entscheiden" die Individuen entsprechend ihrer Reizschwelle.
Eine Ameise kann sich durchaus für den falschen Nestplatz entscheiden.
Solange aber die meisten in einer Kolonie dafür ein besseres Gespür haben, werden sie ein besseres finden - gelangt die Kolonie zum verhältnismäßig
[size=84]besten Nestplatz, oder Futter.M[/SIZE]einer Meinung nach gibt es keine einzelne Ameise, die das schaffen würde, was die Vielen schaffen, denn sie hat nur ein Reizschwellenprofil. Stärken und Schwächen beschränken dieses Individuum, es ist in seiner Produktivität von anderen abhängig, die es unablässig verbessern.
Das gegenseitige, ewige, Verbessern und Weiterarbeiten wo andere angefangen haben, das prägt die kollektive Leistung und erschafft für das einzelne Tier unmögliches.
Irgendwann löst halt die Position einer Tannennadel auf dem Nest keine Reaktion mehr aus - dann ist es erstmal fertig. Das schafft eine Ameise auch, und sie baut auch u.U. einen Haufen, aber sie lebt schon einfach nicht lange genug, um ein Nest dieser Komplexität zu bauen und ich meine auch, dass es ihre Fähigkeiten überstiege, denn sie ist vielleicht gut darin Tannennadeln zu sammeln, kann aber nicht so arg gut jagen, oder Gänge graben, oder Selbstgespräche führen.
Und ihre Beschränkungen würden die Fehlerwahrscheinlichkeit erhöhen.
Ein Individuum ist ein Anderes im Gleichen, v.a. bei Lebendem, und mehr nicht. Jede Ameise ist ein Individuum, dass ihren Zwillingsschwestern sehr sehr ähnlich, aber nicht gleich ist. Und wenn es demnach mehrere Individuen in einem Nest gibt, dann sind sie zusammen ein Kollektiv nach genannter Definition.
Und Du erinnerst Dich an die Arbeit mit den "Zählenden Ameisen"? Da sind es immer Pioniere einer Gruppe von 5-8 gewesen, die den Weg ihrem "Team" erklärt haben? Und diese Versuchsanordnung gründete sich auf das Beobachtete im Freiland: Sie bilden aufgabenorientierte Teams in Einzelfällen. Und schaffen so effektiver, als einzelne, summierte, Ameisen.
Der Unterschied zum Wasser ist offenbar: Auch der größte Ozean ist nicht mehr als die Summe seiner Tropfen Wasser und anderer Moleküle.
Der Tropfen ist klein, der Ozean groß = der einzige Unterschied.
Alles andere ist Klima - ein System, dass tatsächlich in der Summe Phänomene erzeugt, welche sehr komplex, aber nicht aus den Wirkungen der einzelnen Faktoren prinzipiell unberechenbar sind.
Den Unterschied sehe ich im Verhalten der Springschwänze, die sich, wie Du vorhersagtest, sich rasch vermehren (was mich nicht weiter stört). Springschwänze haben ein Set Regeln nach denen sie sich verhalten.
Sie verhalten sich sozial, scheuen einander weg, suchen Partner, Nahrung, wasweißich. Aber die Leistungen einer Ansammlung an Springschwänzen scheinen mir immer erklärbar anhand des Sets Regeln des Einzelnen, ist die Summe dieser Leistungen.
Ameisen haben ein Set Regeln, dessen wichtigstes Gebot, m.E.n., heißt: Achte auf Deine Nächste und was sie tut.
Ich glaube, sie haben den Trick entdeckt einander komplementär zu sein - die von mir angesprochenen Neigungen (H/W "Präferenzen)" werden sich ergonomisch in einem gesunden Volk ausbilden. Hier haben wir also ein Kollektiv, in dem, mit zunehmender Differenzierung, immer weniger alles können, aber viele fast alles irgendwie bewältigt bekommen.
Ich glaube, das erst ermöglicht das Ausbilden solch komplexer Gebilde, wie acht Meter tiefe, perfektionierte Lüftungssysteme integrierende, Nester zu bauen - eine einzelne Ameise würde eben nicht den Drang haben mehr zu tun, als ihrer Neigung entsprechend.
Du sagst, dass dies sehr effektiv geschieht und sich aus den Produkten der Einzelteile erklären läßt - das geht ja nur, wenn sie die Baupläne/Landkarten für das ganze, abrufbar, in sich tragen. Das glaube ich definitiv nicht.
Meiner Meinung nach tragen sie alle dasselbe "Grundgesetz", die Grundentscheidungsregeln, mit sich.
Diese Regeln werden aber entsprechend der "Präferenzen"/Neigungen angewendet
So wirst Du mit Sicherheit Arbeiterinnen finden, die wunderbar furagieren können, die sich aber beharrlich weigern auch nur eine Nadel in Richtung Nest zu tragen.
Allerdings vermögen die Kommunikationen vieler anderer Geschwister sie dann vielleicht doch zu bewegen, je nach Signalstärke, und dann schleppt sie halt ziemlich uneffektiv eine Nadel und braucht länger, verbraucht mehr Energie als die anderen, während alle Geneigten schon lange dabei sind die Nestbeschädigung zu beseitigen und sich im Akkord überbieten.
Eine Ameise mit der Mentalität eines Oberfeldwebels kann natürlich bewegt werden am Haus zu bauen, aber er braucht schon einen fetten Reiz, um seinen Posten zu verlassen.
Und das ist Dir wieder viel zu menschlich, das verstehe ich gut.
Allerdings frage ich mich eher, ob wir nicht viel weniger komplex sind, als uns unser wunderbar komplexes und kollektiv intelligentes Gehirn vorgaukelt.
Wir reagieren auf (fremdbestimmte) Reize in einem viel stärkeren Maße, als wir uns eingestehen wollen und wir sind der Masse so ausgeliefert, wie wir es ungerne wissen: Ausnahmen bestätigen die Regel.
Wir sind nichts anderes als Tiere, denen (und sich) das Gehirn beständig vorgaukelt es sei etwas Besonderes.
Wenn ich ein relativ zur Körpergröße "teures" Gehirn entwickeln würde, ich würde mir wohl auch eins bauen, das sich gut anfühlt.
Aber weder das Gehirn einer Ameise, noch das eines Menschen, gibt einen einigermaßen realistischen Eindruck von der Wirklichkeit: Gehirne sind dazu gebaut Wahrnehmungen und deren Interpretation zu ermöglichen, die das Überleben des Einzelnen und damit der Spezies fördern.
Sie interpretieren Daten.
Im Gegensatz zu dem ameisischen Hirn, m.M.n., interpretieren wir aber die Daten eines weiteren Sinns: des Selbstsinns. Dieser Sinn, gemeinhin durch "Denken" ausgedrückt, erschafft sich eine ganz eigene Welt und den Bedarf sich diese zu erklären.
Der intuitivste Weg der Erkenntnis ist der Vergleich.
Jede einzelne Ameise ist ein Vergleichsfähiges Wesen: Es vergleicht nach Neigung Reizschwelle mit Reiz, dementsprechend reagiert sie.
Der Mensch muss den Vergleich meist erst denken, es sei denn er ist auf der Jagd, Flucht, im Krieg, Hungernd, in der Balz - da passiert dann auch vieles "instinktiv".
Er vergleicht, denkend, und erfindet dabei und erforscht damit und sucht und findet, dass er nicht findet - jeder Dialog ist ein Vergleich der Partner.
Kein Mensch meint dasselbe mit denselben Worten - Definitionen tun not.
Du schreibst:
Ossein, Ameisen erziehen ihren Nachwuchs nicht und bringen ihm auch nichts bei! Sondern die jungen Imagines lernen alleine, wie sie sich zurechtfinden können und ihre Aufgaben bewältigen! Das ist eine individuelle Leistung, keine kollektive!
wo ich vorher geschrieben habe:
[size=100][size=100][size=100][size=100][size=134]Erziehung: Niemals habe ich gesagt, dass Ameisen ihre "Kinder" erziehen. Was ich gesagt habe, ist dass bei den Ameisen etwas ähnliches passiert wie bei uns. Sie erlernen den kolonietypischen Duft. Sie lernen wohl auch bestimmte Gesten zu interpretieren und lernen an bestimmten Aufgaben (es ist doch so, dass irgendwer belegt hat, dass Blattschneider mit der Zeit effektiver werden...).
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HÄH?
Platon fragt: Welche Vorstellung hast Du von den Ameisen?
Und Du wirst sie beantworten müssen mit menschlichen Worten, die Wirklichkeit begrenzend!
Du sagst, dass Ameisen keine vollständigen Individuen sind, sondern nur körperliche und geistige Teilstücke des Ganzen!
Ich sehe beim besten Willen den Unterschied zum menschlichen Individuum nicht. Nimmt man Dir die menschliche Gesellschaft verkürzt sich, schon rein statistisch, Deine Lebenserwartung, Du veränderst Deinen Charakter und Deine Wahrnehmung verändert sich, die Informationslage wird drastisch schlechter, die Gefahrenlage drastisch erhöht - Du überlebst, aber als ein anderer.
"Die Vereinigung der Bruchstücke." = Besser hätte das Konfuzius nicht ausdrücken können. Wir Menschen sind voneinander abhängig, dauernd. Ob wir das wissen wollen oder nicht.
Auch bin ich nicht von Deiner Vorraussetzung für Schwarmintelligenz überzeugt:
Individuen agieren als sich selbst koordinierendes Ganzes.
In allen mir bekannten Schilderungen und Untersuchungen von dem Verhalten von Menschen in großen Massen ist die absolute Selbstkoordinationsfähigkeit stark in Zweifel zu ziehen. Mir schwant, dass es in der Tat eine Art Massenbewußtsein im Einzelnen gibt, eine erhöhte Bereitschaft bestimmten Signalen zu entsprechen - und zwar auch gegen den erklärten Willen. Warum sollte das bei Fischen oder Vögeln nicht deutlich mehr der Fall sein? Massensignale lösen einen Automatikmodus aus.
Zumindest vorläufig sehe ich nicht, dass die Ameise ein dumpfer Apparat ist, der durch die Gegend dackelt, bis er einen Pheromonschock bekommt und handeln muss, sondern ein Wesen, dass auf kleinste und sehr unterschiedliche Reize sinnvoll zu antworten vermag, und zwar oft umso sinnvoller, je mehr mitziehen.
So, jetzt entschuldige ich mich für mein Philosophieren in forumsunspezifischer Überlänge - es wäre schön, wenn ich das (hier) weiterhin ungestraft tun könnte...
LG, Ossein.