Zur Frage von Colophonius (# 12) (und auch von Octicto)
„…. Ideen die du/andere Wissenschaftler über Ameisen hatten, die aus heutiger Perspektive falsch oder gar völlig abwegig erscheinen.“

Das ist
eine Frage, deren Beantwortung Bücher füllen könnte! Die meisten Ideen sind zunächst Arbeitshypothesen: Man stellt sich vor, wie es sein könnte, und dann sucht man nach Hinweisen pro und contra, und versucht die Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen. Oder es läuft auch mal umgekehrt: Man beobachtet etwas, und versucht es zu interpretieren, wobei die Deutung richtig oder falsch sein kann. – Ich bin sicher, dass sehr viel mehr Hypothesen verworfen werden müssen, als sich schließlich beweisen lassen, und das ganz allgemein in der Wissenschaft!
Ein ganz großes Beispiel wäre die Hypothese der „Schöpfung“ vs. Evolutionstheorie: Der Streit zwischen Kreationisten und Evolutionsbiologen ist noch nicht zu Ende, obwohl die Evolutionstheorie harte Beweise hat und die Schöpfungslehre aus wissenschaftlicher Sicht ein Mythos ist.
Ich will nur
ein ganz kleines Beispiel aus eigener Erfahrung beisteuern:
Seit längerer Zeit hat man gewusst, dass es bei Ameisen
Sexuallockstoffe geben muss, z. B.:
Buschinger, A. 1968: “Locksterzeln” begattungsbereiter ergatoider Weibchen von
Harpagoxenus sublaevis NYL. (
Hymenoptera, Formicidae). Experientia 24, 297.
Ich habe damals bereits Ameisen der Größenklasse von
Leptothorax (3-5 mm) seziert, konnte die Hinterleibsdrüsen selektiv ausbauen und die Reaktion schwarmbereiter Männchen darauf testen.
Harpagoxenus-Weibchen haben ungewöhnlich große Dufourdrüsen. Was lag näher, als anzunehmen, dass diese Drüse so groß ist,
weil sie das Sexualpheromon liefert? – Aber alle Experimente sprachen dagegen. Null Reaktion. Auf ganze, zerdrückte
Gaster von Weibchen dagegen reagierten die Männchen positiv.
Ich kam einfach nicht auf die Idee, auch mal die
Giftdrüse zu testen: Die Giftdrüse ist doch für das
Gift zuständig, nicht für amouröse Signale! Drauf war ich geradezu fixiert.

Dann erschien:
Hölldobler, B. 1971: Sex pheromone in the ant
Xenomyrmex floridanus. J. Insect Physiol. 17, 1497-1499. (Es war der erste
Nachweis für das Vorkommen und die Herkunft eines Sexualpheromons bei Ameisen).
Und mir fiel es wie Schuppen von den Augen:
Buschinger, A. 1972: Giftdrüsensekret als Sexualpheromon bei der Ameise
Harpagoxenus sublaevis. Die Naturwissenschaften 59, 313-314.
(Die Titel erzählen eigentlich die ganze story!) Die Giftdrüse liefert
auch Giftsekret, aber daneben eben
auch das Sexualpheromon, und zwar in der ganzen Tribus der Formicoxenini (
Leptothorax, Temnothorax, Formicoxenus, Harpagoxenus, Xenomyrmex und ein paar andere). Das Sekret kommt auch in den Giftdrüsen von Arbeiterinnen vor, wo es zum Spurlegen dient, oder als Signal beim Tandemlauf. Sozusagen frei übersetzt heißt es: „
komm her", oder
"komm mit“!
Mit Hilfe von Chemikern gelang es viel später dann sogar, die wirksamen Substanzen zu identifizieren:Reder, E., Veith, H.J., Buschinger, A. 1995: Neuartige Alkaloide aus dem Giftdrüsensekret sozialparasitischer Ameisen (Myrmicinae: Leptothoracini). Helvetica Chimica Acta 78, 73-79. Das muss genügen um zu zeigen, wie allenthalben falsche und auch abwegige Ideen existier(t)en! - Ein nettes Beispiel wäre etwa auch die ursprüngliche Vermutung, dass Blattschneiderameisen die Blattstücke als Sonnenschirmchen tragen. So glaubte man, bevor ihre Pilzzucht entdeckt wurde!

MfG,
Merkur